25 Jahre Benachteiligungsverbot
Schutz behinderter Menschen bei „Triage“-Entscheidungen
Noch immer – wir schreiben den letzten Tag des Jahres 2021 – hat die Covid-19-Pandemie auch Deutschland voll im Griff. Wie bereits im Sommer 2020 sind die Intensivstationen der deutschen Krankenhäuser in vielen Städten und Regionen an der Grenze ihrer Belastungs- und damit Aufnahmefähigkeit angelangt. Wieder ist nicht auszuschließen, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, wer das letzte freie Bett bekommen soll. Als diese „Triage“ genannte Situation im Sommer 2020 einzutreten drohte, sahen neun Menschen mit Behinderung die Gefahr, dass ihnen wegen ihrer Behinderung eine Diskriminierung drohe, bis hin zur Verweigerung lebensrettender Maßnahmen. Sie zogen vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und forderten von diesem die Feststellung, dass der Gesetzgeber tätig werden müsse, um derartiges zu verhindern. Bisher ist es nämlich so, dass es als Entscheidungshilfe für die Ärztinnen und Ärzte in diesen Fällen lediglich Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gibt, die zwar von der Ärzteschaft allgemein anerkannt werden, aber eben – anders als eine gesetzliche Regelung – als unverbindlich angesehen werden müssen.
Am 16. Dezember 2021 entschied das BVerfG über diese Verfassungsbeschwerde in Gestalt eines Beschlusses, der am 28. Dezember 2021 veröffentlicht wurde. Darin stellt es fest, der Gesetzgeber sei wegen des in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes geregelten Benachteiligungsverbots im Ergebnis verpflichtet gewesen, gesetzliche Regelungen zu treffen, um eine Diskriminierung behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen zu verhindern (besonders pikant hieran ist, dass die Bundesregierung in einer Stellungnahme zu diesem Verfahren eine solche Verpflichtung nicht gesehen hatte). Zwar bemühten sich die Empfehlungen der DIVI, eine solche Diskriminierung zu verhindern; sie könnten dies aber nicht hinreichend sicherstellen. Wer nicht den ganzen Entscheidungstext lesen mag, findet hier eine von mir erstellte Zusammenfassung der wichtigsten Elemente der Begründung.
Doch diese Entscheidung des BVerfG stößt nicht nur auf Zustimmung. Interessant ist hier zunächst das Interview, das der ehemalige Präsident der DIVI und Mitautor der erwähnten Empfehlungen, Prof. Dr. Uwe Janssens, den „tagesthemen“ am Tag der Veröffentlichung des Beschlusses gab. Darin erweckt er den Anschein, in der BVerfG-Entscheidung würden diese Empfehlungen gutgeheißen, und eine gesetzliche Regelung sei eher überflüssig. Stattdessen bat er auch die Richterinnen und Richter des BVerfG um „Vertrauen“ in die Ärzteschaft. In einer E-Mail vom 29. Dezember 2021 machte ich ihn darauf aufmerksam, dass dem Begründungstext der Entscheidung gerade zu entnehmen sei, dass die DIVI-Empfehlungen gerade keine hinreichende Gewähr dafür böten, Diskriminierungen behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen verhindern zu können. Den sich hieraus entwickelnden E-Mail-Schriftverkehr stelle ich Ihnen an dieser Stelle gerne zur Verfügung. Ergänzend hierzu finden Sie hier auch die von Prof. Janssen erwähnte kritische Stellungnahme des auch in der BVerfG-Entscheidung erwähnten Bochumer Staatsrechtlers Prof. Huster; dieser habe ich zudem noch den Schriftsatz entnommen, mit dem die Verfassungsbeschwerde im Sommer 2020 erhoben wurde.
Meine Meinung: Die in dem E-Mail-Verkehr und der Stellungnahme von Prof. Huster geübte Kritik an der BVerfG-Entscheidung macht deutlich, wie defizitär immer noch gerade ärztliches Wissen um das Wesen von Behinderung und die aus ihr resultierenden Erfordernisse sind. Geradezu erschreckend finde ich, wie sich Prof. Huster in seiner Kritik mit seinen juristischen Spitzfindigkeiten auf Nebenschauplätze begibt und auf die Kernfrage, ob denn die DIVI-Empfehlungen nun tatsächlich die Diskriminierung behinderter Menschen bei Triage-Entscheidungen verhindern können oder – wovon die Verfassungsrichter ausgehen – eben nicht, gar nicht eingeht. Trotz der für mich durchaus erstaunlichen Tatsache, dass Prof. Janssens überhaupt auf meine Kritik reagiert hat, zeugt seine Reaktion doch andererseits von einer gewissen Einsichtslosigkeit und Arroganz. Sollte dieser Meinungsaustausch im Jahr 2022 eine Fortsetzung finden, werde ich an dieser Stelle darüber berichten.
Blindenführhund darf in Arztpraxis
Die erste Entscheidung, die das BVerfG nach dem „Jubiläum“ des Benachteiligungsverbots wegen Behinderung (s. den nachfolgenden Artikel) zu treffen hatte, betraf die Frage, ob es einer blinden Frau verweigert werden darf, mit ihrem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, um in die Praxis des Physiotherapeuten ihrer Wahl zu gelangen. Dies wurde ihr mit dem Hinweis auf „hygienische Gründe“ verweigert. Nachdem die Klage vor dem Berliner Landgericht und das Berufungsverfahren vor dem Kammergericht erfolglos geblieben waren, erhob die Frau Verfassungsbeschwerde. Diese war erfolgreich: Mit Beschluss vom 15. Januar 2020 entschied der 2. Senat des BVerfG, dass die Entscheidung des Berliner Kammergerichts die Frau in unzulässiger Weise in ihren Rechten verletzt: das Kammergericht habe die Ausstrahlung des Benachteiligungsverbots auf das Zivilrecht nicht berücksichtigt. Die wesentlichen Entscheidungsgründe habe ich kurz zusammengefasst. Eine mit Quellennachweisen und einer Bewertung versehene Version dieser Zusammenfassung finden Sie in der Gesamtdarstellung der BVerfG-Entscheidungen zum Benachteiligungsverbot auf S. 19 f. (s. auch weiter unten „Die Rechtsprechung des BVerfG“)
Das Benachteiligungsverbot hat Jubiläum!
Der 15. November 1994 war ein historischer Tag für die Menschen mit Behinderung in Deutschland: An diesem Tag trat die Ergänzung des Artikel 3 Abs. 3 des Grundesetzes durch den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“, in Kraft. Aus diesem Anlass widme ich dem Benachteiligungsverbot mit einer kleinen Verspätung (wir schreiben den 2. Dezember 2019) eine eigene Seite. Hier finden Sie künftig neben einer Darstellung des Zustandekommens dieser Grundgesetz-Ergänzung Informationen über Gerichtsurteile (vor allem des Bundesverfassungsgerichts), die diesen abstrakten Satz seither mit tatsächlichem Leben erfüllt haben, aber auch die Grenzen des mit ihm Geregelten verdeutlichen. Einer der von diesem Gericht aufgestellten und in seinen Entscheidungen immer wieder betonten Grundsätze lautet nämlich: „Nicht jede Benachteiligung ist eine verbotene Benachteiligung.“ Was das im Einzelnen bedeutet, werden Sie den weiter unten auf dieser Seite dargestellten Entscheidungen entnehmen können.
Zur Historie des Benachteiligungsverbots
Wie ist es seinerzeit überhaupt zur Einfügung des Benachteiligungsverbots in das Grundgesetz gekommen? Möglich wurde sie nicht zuletzt dadurch, dass die im Jahr 1990 erfolgte Vereinigung Deutschlands (rechtlich genauer: der Beitritt der DDR zur BRD) auch eine Verfassungsdiskussion auslöste, bei der sogar die Erarbeitung einer völlig neuen Verfassung im Raum stand (dieser Anspruch ist im 1949 verabschiedeten Grundgesetz der BRD formuliert worden). Letztlich entschloss man sich zu einer Überarbeitung des Grundgesetzes. Dass dabei die Einfügung eines Benachteiligungsverbots von Anfang an im Raum stand, aber denoch fast am Widerstand der seinerzeitigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP gescheitert wäre, und eine Kurzdarstellung der Gesetzesmaterialien können Sie der von mir erstellten Ausarbeitung „Wie entstand das Benachteiligungsverbot“ entnehmen.
Die Rechtsprechung des BVerfG
Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG muss zunächst einmal sehr abstrakt erscheinen. Zwar ist bereits in der Gesetzesbegründung festgehalten, dass es sowohl die Gesetzgebung als auch die staatliche Gewalt und die Rechtsprechung (also die Gerichte bzw. die von ihnen zu treffenden Entscheidungen) bindet, aber was bedeutet das konkret? Letztlich hat hierüber das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu entscheiden. Seit dem Inkrafttreten der Bestimmung sind insgesamt dreizehn Entscheidungen dieses höchsten deutschen Gerichts verkündet worden. Vierzehn von ihnen sind in meiner Ausarbeitung „Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG“ dargestellt. Die fünfzehnte ist nicht in diese Übersicht aufgenommen worden, weil es in dem Verfahren lediglich um die Verweigerung von Rechtsmitteln (Zulassung einer Berufung) ging, um den Anspruch auf einen geltend gemachten Nachteilsausgleich durchsetzen zu können; in dieser Entscheidung sind keine inhaltlichen Aussagen des BVerfG zum Benachteiligungsverbot enthalten.
Die zwei wohl bedeutendsten Entscheidungen zu diesem Komplex hat das BVerfG erst im Jahr 2019 gefällt; sie betrafen einen Rechtszustand, der einem Teil der behinderten Menschen das vornehmste Recht vorenthielt, das diese Staatsform zu vergeben hat: das Wahlrecht. Wegen der herausragenden Bedeutung dieser Entscheidungen habe ich ihnen eigene Artikel gewidmet, die Sie nachfolgend auf dieser Seite finden. Neben Links zum jeweiligen Entscheidungstext finden Sie dort von mir erstellte Zusammenfassungen sowie weitere Materialien zum Thema.
Seit 2015 sind drei Verfahren beim BVerfG anhängig, zu denen bis Dezember 2019 auf der Homepage des Gerichts kein Entscheidungstext eingestellt ist. Sie betreffen die Frage, ob und ggfls. weliche Nachteilsausgleiche Schüler/innen mit Lese-Rechtschreibschwäche bei der Benotung ihrer Leistungen zustehen (können). Ich werde versuchen, diese Vorgänge im Auge zu behalten und über die entsprechenden Entscheidungen zeitnah zu informieren.
Wie ernst nimmt Berlin die UN-Konvention?
Seit dem Inkrafttreten der UN-BRK gab es in Deutschland eine Diskussion darüber, ob der seit Gründung der Bundesrepublik bestehende, nur vom Wortlaut her neuen Gegebenheiten angepasste Ausschluss vom Wahlrecht für Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten vom hierfür zuständigen Amtsgericht angeordnet war, mit diesem Regelwerk noch vereinbar sei. Bereits im Jahr 2011 hatte die Bundesregierung eine „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung“ in Auftrag gegeben. Deren Ergebnis wurde im Juli 2016 im gleichnamigen „Forschungsbericht 470“ vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlicht. Das Ergebnis lautete, dieser Wahlrechtsausschluss sei „verfassungsrechtlich unbedenklich“, weshalb offenbar seitens der Bundesregierung kein weiterer Handlungsbedarf gesehen wurde. Dies ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass eine Gruppe von Menschen, die von diesem Wahlrechtsausschluss betroffen war, nach der Bundestagswahl 2013 gegen ihren Ausschluss von dieser Wahl Klage vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erhoben hatte, über die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Forschungsberichts noch nicht entschieden war. Diese Klage wiederum war erst durch eine im Jahr 2012 erfolgte Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) möglich geworden.
Offenbar die am 26. Mai 2019 anstehende Wahl zum Europäischen Parlament (Europawahl) hatte die Oppositionsparteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und FDP veranlasst, im August/September 2018 zwei Gesetzentwürfe in den Deutschen Bundestag einzubringen, die eine Aufhebung der bisherigen Wahlausschlüsse (neben dem oben beschriebenen Personenkreis waren auch Menschen betroffen, die durch eine Gerichtsentscheidung in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen waren) bereits rechtzeitig vor dieser Wahl erreichen wollten. Während der parlamentarischen Beratung dieser Gesetzentwürfe wurde am 21. Februar 2019 die am 29. Januar 2019 gefällte Entscheidung des BVerfG über die oben erwähnte Klage veröffentlicht. Diese besagte nun, dass die im § 13 Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) geregelten Wahlausschlüsse nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien (s. Artikel „Bundesverfassungsgericht kippt Wahlausschluss behinderter Menschen“ auf dieser Seite). Sie betraf zwar formal nur das BWahlG; da die fraglichen Regelungen im Europawahlgesetz jedoch gleichlautend waren, war relativ klar, dass auch diese mit dem Grundgesetz nicht vereinbar waren. Folgerichtig wurde in einer von den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD am 12. März 2019 im Deutschen Bundestag eingebrachten Beschlussempfehlung angekündigt, die vom BVerfG beanstandeten Wahlrechtsausschlüsse mit Wirkung vom 1. Juli 2019 an sowohl im Bundes- als auch im Europawahlgesetz zu beseitigen und zugleich flankierende Regelungen zu erlassen, um möglichen Missbräuchen vorzubeugen. Eine Aufhebung bereits zur im Mai stattfindenden Europawahl sei aus europarechtlichen Gründen nicht mehr möglich. (Erst anlässlich meiner Suche nach der entsprechenden Bundestags-Drucksache stieß ich auf die erwähnten, von den Oppositionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwürfe.) Obwohl also die BVerfG-Entscheidung bekannt und ein (eigener) Gesetzentwurf zu deren Umsetzung angekündigt waren, wurden die erwähnten Gesetzentwürfe bei der Schlussabstimmung am 15. März 2019 mit der Mehrheit der Stimmen der Regierungskoalition abgelehnt. Diesen Vorgang hatte ich bereits seinerzeit kritisch hinterfragt.
Wie in der Debatte zu dieser Schlussabstimmung angekündigt, zogen in der Folge 210 (!) Abgeordnete der genannten Oppositionsparteien vor das BVerfG und beantragten dort den Erlass einer Einstweiligen Anordnung, um den nach dem Willen der Regierungsfraktionen auch nach der eindeutigen Entsche.idung dieses Gerichts vom 29. Januar 2019 weiterhin von der Teilnahme an der Europawahl Ausgeschlossenen doch noch die Teilnahme an dieser zu ermöglichen. Mit Urteil vom 15. April 2019 erließ das BVerfG eine entsprechende Anordnung: Wer im Rahmen eines Antrags oder einer Beschwerde bei der zuständigen Behörde die (nachträgliche) Aufnahme in das Wählerverzeichnis beantragte, konnte bei der Europawahl seine Stimme abgeben.
Über einen längeren Zeitraum war selbst auf der Homepage des BVerfG eine Begründung dieses Urteils nicht verfügbar. Erst als ich Ende November 2019 wegen anderer Recherchen wieder einmal diese Website aufsuchte, stieß ich auf diese. Ihr ist u.a. zu entnehmen, dass zur mündlichen Verhandlung in dieser Sache auch ein Beschluss des Deutschen Bundestages vorgelegt wurde, der eine Abweisung des Antrags auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung fordert. Dieser kann nach Lage der Dinge nur von der Mehrheit der Regierungsfraktionen verabschiedet worden sein. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Verfassungsrichter in ihren Entscheidungsgründen nahezu alle gegen die Aufhebung der Wahlausschlüsse vorgebrachten Argumente entweder als unbegründet oder als nicht stichhaltig erachtet haben. Wer sich nicht das gesamte Urteil zu Gemüte führen möchte, kann dies in meiner Zusammenfassung nachlesen.
Die darin aufgeworfenen Fragen an die Fraktionsführungen der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD habe ich mit Schreiben vom 2. Dezember 2019 auch den Vorsitzenden der beiden Fraktionen, Ralph Brinkhaus und Dr. Rolf Mützenich, gestellt. Mir scheint es, als sei insbesondere bei der CDU/CSU die Bedeutung der mit der UN-BRK eingegangenen Verpflichtungen noch immer nicht hinreichend ins Bewusstsein gedrungen. Die SPD hatte in den parlamentarischen Beratungen zu den von den Oppositionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwürfen zwar einerseits deutlich gemacht, dass sie eigentlich für eine Aufhebung der Wahlausschlüsse sei, die Ablehnung derselben aber andererseits ganz offen mit der „Koalitionsräson“ begründet. Dies kann man ihr sowohl zugute halten als auch vorwerfen, letzteres auch, weil ich kaum glaube, dass ein von der Haltung der Unionsfraktion abweichendes Abstimmungsverhalten in dieser Frage tatsächlich zum Bruch der „GroKo“ hätte führen können. Antworten auf meine Anfragen werde ich an dieser Stelle bekannt machen.
Bundesverfassungsgericht kippt Wahlausschluss behinderter Menschen
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 21. Februar 2019 einen Beschluss veröffentlicht, dem zufolge der generelle Ausschluss von Menschen vom Wahlrecht, für die eine Betreuung in allen Bereichen angeordnet ist, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Zu dieser Entscheidung kann ich Ihnen neben der sehr umfangreichen Pressemitteilung des BVerfG weitere Dokumente anbieten. Zunächst finden Sie hier den vollständigen Entscheidungstext, heruntergeladen von der Homepage des BVerfG. Dieser enthält sehr interessante Einzelheiten: u.a. ist ihm zu entnehmen, weshalb erst jetzt eine Entscheidung zur Problematik dieser Wahlausschlüsse erfolgen konnte und seitens der politisch Verantwortlichen nicht schon vorher gehandelt wurde. Wer sich nicht durch die immerhin 44 Seiten dieser Entscheidung kämpfen möchte, findet hier eine von mir erstellte und mit Erläuterungen sowie einer Bewertung versehene Zusammenfassung. Eine Kurzfassung derselben berichtet lediglich über den Tenor der Entscheidung und stellt die wichtigsten Elemente der Begründung dar. Bereits im September 2012 (!) hatten insgesamt 22 Selbsthilfe-Verbände behinderter Menschen in einem Positionspapier die Aufhebung dieses Wahlausschlusses gefordert.
Inzwischen hat die Bundesregierung ihre nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung gemachte Ankündigung verwirklicht und mit Wirkung vom 1. Juli 2019 nicht nur die Wahlausschlüsse beseitigt, sondern auch ergänzende Regelungen vom Deutschen Bundestag verabschieden lassen, die Hilfestellungen für Menschen mit Behinderungen beim Wahlvorgang regeln und Missbräuche der Hilfspersonen hierbei unter Strafe stellen. Nähere Informationen finden Sie hier.
Was bedeutet „Benachteiligung“
Ende 2018 habe ich mich im Zusammenhang mit der Frage, welche Auswirkungen die Zulassung von Methoden der vorgeburtlichen Diagnostik auf das Lebensrecht behinderter Menschen haben, mit der Bedeutung des Wortes „seiner“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auseinandergesetzt. Hintergrund war die Überlegung, dass rein sprachlich für den Zweck, Benachteiligungen behinderter Menschen zu verbieten, das Wort „einer“ ebenso ausreichend gewesen wäre. Diese Überlegung stand wiederum im Zusammenhang mit dem Umstand, dass bestimmte Behinderungen vor der Geburt durch entsprechende Diagnostik mit einiger Wahrscheinlichkeit erkannt werden können, was wegen der Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch und der aus ihr folgenden Rechtslage das Lebensrecht der betroffenen Föten infrage stellt. Ist dagegen eine Behinderung nicht vor der Geburt diagnostizierbar, bleibt das Lebensrecht dieser Föten unangetastet. Wenn nun jemand wegen „seiner“, also der nur ihm eigenen, Behinderung nicht benachteiligt werden darf, dann bedeutet die Infragestellung des Lebensrechts der Kinder, deren Behinderung mittels vorgeburtlicher Diagnostik feststellbar ist, durch die Möglichkeit der Mutter, diese Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen abzubrechen, möglicherweise eine verbotene Benachteiligung gegenüber den Kindern, bei denen die Behinderung nicht vorgeburtlich erkennbar ist. Die Analyse der Gesetzesmaterialien und der bis Ende 2018 ergangenen Rechtsprechung des BVerfG zum Benachteiligungsverbot ergab jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Wort „seiner“ die von mir vermutete (und immerhin nicht von vornherein auszuschließende) Bedeutung zukommen könnte.